DeutschdeDeutsch

Kartellrechtliche Fallstricke bei selektiven Vertriebssystemen

20. Jun 2022

Mit Blick auf die neue Vertikal-Gruppenfreistellungsverordnung («Vertikal-GVO») der EU. Sobald Schweizer Unternehmen Handel im EU-Markt betreiben, kommt das europäische Kartellrecht zur Anwendung. Infolge der Zunahme des europaweiten (Online)-Handels hat die Europäische Kommission die neue Vertikal-GVO verabschiedet, welche per 1. Juni 2022 in Kraft tritt. Mitunter werden die Regeln für den selektiven Vertrieb erweitert und flexibilisiert.

Selektives Vertriebssystem

Hersteller und sonstige Anbieter von Produkten vertreiben ihre Produkte in der Regel über Händler. Dies kann u.a. über ein selektives Vertriebssystem erfolgen. Bei einem solchem wählt der Anbieter seine Händler nach bestimmten qualitativen und teils auch quantitativen Kriterien aus und verpflichtet diese, nur an solche Händler zu verkaufen, die denselben Kriterien genügen. Ein solches Vertriebssystem kommt in der Regel bei Luxusprodukten und bei komplexen Produkten, die eine gewisse Beratungsleistung und ein Qualitätsniveau der Händler erfordern, zum Zug.

Bei selektiven Vertriebssystemen besteht aber auch die Gefahr von schädlichen Auswirkungen auf den Wettbewerb, wobei wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen sowohl nach EU-Recht (Art. 101 AEUV) als auch nach Schweizer Recht (Art. 5 KG) im Grundsatz verboten sind. Generell gilt das EU-Kartellrecht als sehr streng, was oft zu einer Schlussfolgerung der Zulässigkeit nach anderen nationalen Kartellrechtsordnungen (inkl. des CH-Kartellrechts) führt.

Nach EU-Recht ist eine wettbewerbsbeschränkende Vereinbarung zwischen Anbieter und Händler jedoch vom Verbot nach Art. 101 AEUV freigestellt und kartellrechtlich zulässig, wenn insbesondere der Markanteil der beteiligten Unternehmen 30% nicht übersteigt und die Vereinbarung keine sog. Kernbeschränkungen enthält.

Kernbeschränkungen

Kernbeschränkungen sind solche Vereinbarungen, die den Wettbewerb derart erheblich beschränken, so dass sie grundsätzlich und unabhängig der Marktanteile der beteiligten Unternehmen gegen das Wettbewerbsverbot nach Art. 101 AEUV verstossen. Dazu gehören bisher folgende Beschränkungen, wobei jede Kernbeschränkungen wiederum Ausnahmen hat:

  • Beschränkungen der freien Preisfestsetzung;
  • Beschränkungen des Gebietes oder der Kundengruppe, in das oder an die der Abnehmer verkaufen darf;
  • Beschränkungen des aktiven und passiven Verkaufs an Endverbraucher durch auf der Einzelhandelsstufe tätige Mitlieder eines selektiven Vertriebssystems;
  • Beschränkung von Querlieferungen zwischen Händlern innerhalb eines selektiven Vertriebssystems;
  • Beschränkungen, die es Endbenutzern, unabhängigen Reparaturbetrieben und Dienstleistungserbringern untersagen oder nur mit Einschränkungen gestatten, Ersatzteile unmittelbar vom Hersteller zu beziehen.

Mit dem bisherigen Recht herrschte, trotz Vorliegen diverser höchstinstanzlicher Entscheide des Europäischen Gerichtshofs, lange Unklarheit über die Zulässigkeit von Vertriebsbeschränkungen, insbesondere im Zusammenhang mit dem Onlinehandel (z.B. Plattformverbote etc.). Zur Gewährung eines besseren Schutzes des selektiven Vertriebs sind nun nach neuem EU-Recht u.a. folgende Beschränkungen erlaubt:

  1. Verbot des aktiven Vertriebs in Exklusivgebieten bzw. an Exklusivkunden:
    Anbieter können aktive Verkäufe durch Händler aus nicht exklusiv zugewiesenen Gebieten in Exklusivgebiete bzw. an eine exklusiv zugewiesene Kundengruppe verbieten. Dies gilt jedoch nicht für passive Verkäufe (= Verkäufe bei unaufgeforderten Bestellungen). Diese Beschränkungen waren zwar nach der bisherigen Rechtslage schon zulässig, allerdings anhand des bisherigen Gesetzestextes nicht ohne Weiteres ersichtlich.
  2. Verbot des aktiven bzw. passiven Vertriebs an nicht zugelassene Händler in selektiven Vertriebsgebieten:
    Anbieter können Alleinvertriebspartnern, aber auch freien Händlern, die nicht Mitglied des selektiven Vertriebssystems sind, aktive und passive Verkäufe an nicht-zugelassene Händler in selektiven Vertriebsgebieten untersagen.
  3. Beschränkungen des Niederlassungsortes des Händlers
  4. Verbot aktiver Verkäufe durch mittelbare Abnehmer:
    Bisher konnten Anbieter aktive Verkäufe an exklusiv zugewiesene Kundengruppen oder -gebiete durch den unmittelbaren Händler verbieten. Neu kann diese Verkaufsbeschränkung auch auf die Abnehmer der Händler (mittelbare Abnehmer) ausgeweitet werden.

Spezialfall Onlinevertrieb

Die neue Vertikal-GVO der EU erhält erstmals eine explizite Regelung für Beschränkungen des Onlinevertriebs. Beschränkungen des Händlers oder seines Kunden an der wirksamen Nutzung des Internets (zum Zwecke des Vertriebs) werden grundsätzlich als Kernbeschränkungen angesehen. Folgende Beschränkungen sind in Bezug auf den Onlinevertrieb jedoch möglich:

  1. Unterschiedliche Preise für Online- und Offline-Vertrieb:
    Hersteller können künftig unterschiedliche Preise für online und offline verkaufte Produkte oder Dienstleistungen (Dual pricing) festsetzen, soweit dadurch unterschiedlich hohe Investitionen von Online- und Offline-Vertrieb reflektiert werden.
  2. Vorgabe betreffend stationäres Geschäft und Mengenvorgaben:
    Anbieter können verlangen, dass Händler mindestens ein stationäres Geschäft betreiben und Vorgaben betreffend Mindestverkaufsmenge machen.
  3. Qualitätsvorgaben für den Onlineverkauf:
    Vorgaben wie z.B. an das Design und die Gestaltung der Webseite oder hinsichtlich der Präsentation der Ware des Anbieters sind zulässig. Dabei müssen die von Anbietern auferlegten Kriterien für Onlineverkäufe nicht mehr gleichwertig mit den Kriterien sein, die für stationäre Geschäfte gelten.
  4. Onlinewerbung:
    Anforderungen an Onlinewerbung sind zulässig, solange die effektive Nutzung eines oder mehrerer bestimmter Online-Werbekanäle nicht verhindert wird.
  5. Plattformverbote:
    Künftig können Hersteller ihren Händlern verbieten, Produkte/Dienstleistungen über Online-Marktplätze wie Amazon und Ebay zu verkaufen. Dies gilt unabhängig von der Art des Produktes bzw. der Dienstleistung. Etwas anderes gilt aber dann, wenn derartige Verbote zur Folge hätten, dass dem Vertragspartner der Onlinevertrieb faktisch vollkommen verboten wird.

Fazit

Die neue Vertikal-GVO und die neuen Leitlinien bieten auch für schweizerische Unternehmen Optionen für neue Vereinbarungen mit ihren Vertriebspartnern. Bei der Umsetzung ist jedoch neben der wirtschaftlichen Prüfung stets ein Augenmerk auf die Einhaltung der (durchwegs komplizierten) Regelwerke des EU-Rechts zu legen.

Martina Wüthrich

Kontakt

Martina Wüthrich, Partnerin 
Muri Partner Rechtsanwälte AG 

Sangenstrasse 3
8570 Weinfelden
+41 (0) 71 622 00 22
mrtnwthrchmr-nwltch
www.muri-anwaelte.ch

Melanie Strässle

Kontakt

Melanie Jauch, Rechtsanwältin
Muri Partner Rechtsanwälte AG 

Sangenstrasse 3
8570 Weinfelden
+41 (0) 71 622 00 22
mlnjchmr-nwltch
www.muri-anwaelte.ch

Diese Webseite verwendet Cookies. Durch die Nutzung der Webseite stimmen Sie der Verwendung von Cookies zu. Datenschutzinformationen